von Marie Helen Banck
Heiß auf EisRendezvous mit dem Nigardsbreen
Der Nigardsbreen ist der am leichtesten zugängliche Gletscher Norwegens. Auf einer Wanderung kommt man bis an seinen Rand heran. Ausgerüstet mit Steigeisen und Eispickel geht es aufs Blaueis, eine sichere und doch abenteuerliche Tour.
Am Anfang steht das Gletschermuseum
Am Eingang zum Jostedalsbreen-Nationalpark empfängt das Breheimsenteret die Besucher und führt sie mit einer ausführlichen Dokumentation in die Welt der Gletscher ein. Es lohnt sich, die Ausstellung anzuschauen, bevor man zum Nigardsbreen losmarschiert (ca. 1 Std. dafür einplanen). Neben Legenden und persönlichen Schicksalen von Menschen, die dem Gletscher weichen mussten, erklärt es die Entstehungsgeschichte der Eisgiganten. Sie bilden sich dort, wo Schnee ganzjährig liegen bleibt und immer neuer Schnee hinzukommt, der die unteren Schichten durch sein Gewicht verdichtet. Ist der Druck groß genug, verwandelt sich der Schnee in Eis. Ab einer Eisdicke von etwa 30 m, beginnt sich die Eismasse der Schwerkraft folgend langsam in Bewegung zu setzen. Die auf diese Weise vorrückenden Gletscherzungen führen Geröll- und Sandmassen mit sich, die sich bei Stillstand oder Rückgang in Moränen ablagern und so noch nach Jahrhunderten Auskunft über die Bewegungen des Gletschers geben können.
Keine Grüße aus der Eiszeit
Die in Norwegen als bre, jøkul oder fonn bezeichneten Gletscher sind nicht, wie früher angenommen, Reste eiszeitlicher Gletschermassen. Nach dem Ende der vorerst letzten großen Kälteperiode vor 10 000 Jahren folgte eine Warmzeit, die vermutlich innerhalb von 2000 Jahren das letzte Inlandeis zum Schmelzen brachte. Vor etwa 6000 Jahren begann sich das Klima dann wieder abzukühlen. Während der sogenannten kleinen Eiszeit im 18. Jh. wuchsen vor allem die im schneereichen Westen Norwegens liegenden Gletscher dramatisch an.
Die Folgen dieser Entwicklung bekamen die Hofbewohner im Nigardstal zu spüren. Der einstige Standort des Nigardshofs ist heute zwar nicht mehr genau auszumachen, befand sich aber wohl – blickt man ins Tal – ein gutes Stück vom Gletschersee entfernt in Richtung Gletschermuseum. Um 1700 begann sich der Nigardsbreen auszudehnen und wuchs bis 1748 um fast 3 km. Einer Woge gleich wälzte er sich in das Tal, in dem seit Jahrhunderten Menschen auf dem Gehöft siedelten. Um 1742 notierte der Gemeindepfarrer, der das Vorrücken des Gletschers ausführlich dokumentierte, dass sich das Eis bis auf hundert Armlängen an die Felder des Nigardshofs herangeschoben hatte. Im August des folgenden Jahres war es dann soweit. Lange befürchtet und am Ende doch überraschend, erfasste die Gletscherzunge den Hof und riss die Häuser fort.
Um 1748 hatte der Gletscher seine größte Ausdehnung erreicht und begann sich zunächst nur langsam wieder zurückzuziehen. In manchen Jahren kam es dennoch erneut zu Vorstößen der Eismassen, so 1845, 1873, 1910 und 1930.
Auswirkungen des Klimawandels
Ein vergleichbares Wachsen der Gletscher ist in Zeiten der globalen Erderwärmung nicht mehr zu befürchten. Heute vergrößern sich in den meisten Teilen der Welt nur die Gletscherseen, so auch in Norwegen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen topografischen Gegebenheiten weisen die einzelnen Gletscherarme aber sehr individuelle Reaktionszeiten auf. Der Nigardsgletscher reagiert beispielsweise relativ langsam auf Klimaveränderungen, etwa mit einer Verzögerung von 20–30 Jahren. So sind hier die Folgen der globalen Erwärmung noch nicht sichtbar. Im Gegenteil: Wissenschaftler halten in den nächsten Jahren sogar eine Ausdehnung für durchaus möglich. Der Briksdalsbreen, ebenfalls ein Ausläufer des mächtigen Jostedalsbreen, reagiert schneller auf Umweltveränderungen und ging in den letzten Jahren stark zurück.
Annäherung an den Eisgiganten
Auf der 3 km langen Fahrt (Maut) vom Gletschermuseum zum Nigardsbrevatn kann man die Spuren sehen, die der Nigardsbreen bei seinem Rückzug in den letzten 200 Jahren hinterlassen hat. Junge Vegetation, große Steine und Geröll sind Zeugen der ehemals gigantischen Ausdehnung des Gletschers. Auch die türkise Farbe des Gletschersees weist deutlich auf seinen Ursprung hin. Hier setzt das kleine Boot Jostedalsrypa, Jostedalsschneehuhn, ans andere Ufer über. Nach der entspannten Bootsfahrt mit tollem Ausblick sind es nur noch 5 Min. zu Fuß bis zur Gletscherzunge. Alternativ zur Bootsfahrt kann man am See entlang in 30–45 Min. zu Fuß zum Gletscher gelangen. Beim Näherkommen schlägt der Nigardsbreen den Betrachter mit seinen haushohen Spalten, spitzen Eistürmen, schwarz gähnenden Gletschertoren, reißenden Schmelzwasserbächen und unergründlichen blauen Tiefen in seinen Bann.
Ein blaues Wunder
Wem der spektakuläre Anblick nicht reicht, kann dem Eiskoloss bei einer geführten Wanderung ab dem Parkplatz am Nigardsbrevatn (Anmeldung im Breheimsenteret) noch näher kommen. Ausgestattet mit Steigeisen und Eispickel, angeseilt an Vordermann oder -frau geht es auf ins Blaueis, das an vielen Stellen, an denen man Einblick in das Innere des Gletschers erhält, tatsächlich so blau ist, wie sein Name es verspricht. Da der Nigardsbreen ständig in Bewegung ist, tun sich immer wieder neue Spalten auf. So kann es sein, dass der Gletscherführer erst eine neue Treppe ins Eis schlagen muss, um mit der Gruppe einen Aufstieg zu meistern, der gestern vielleicht so noch nicht vorhanden war.
Besonders attraktiv am Nigardsbreen ist, dass es hier Tourangebote für fast jedes Alter und jede Kondition gibt. Empfehlenswert für Familien mit Kindern ab 6 Jahren sind z. B. die leichten einstündigen Familientouren. Bei der anspruchsvollsten Tour hält man sich 5 Std. auf dem Gletscher auf, inklusive Eisklettern. Erfahrung ist hier zwar nicht vonnöten, dafür aber eine gute Kondition. Unentbehrlich bei allen Touren sind warme Kleidung (auch im Sommer!), festes Schuhwerk und eine Sonnenbrille. Es empfiehlt sich, vor dem Start die Toilette im Breheimsenteret oder am Parkplatz aufzusuchen und nicht zu viel zu trinken. Bei einem heißen Kakao im Gletscherzentrum kann man das Erlebnis ausklingen lassen.
Aus: DuMont Reise-Taschenbuch Norwegen – Das Fjordland.
Marie Helen Banck, S. 198–200